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Biografie

Lebensphasen & Lebensdaten

1. Vom Mädchen Minna zur Madame Reichard (1788 bis 1810)

1788 wird Johanne Wilhelmine Siegmundine Schmidt am 2. April in Braunschweig geboren. Sie ist das dritte von insgesamt neun geborenen Kindern des Ehepaares Sigismund David Schmidt und Juliane Wilhelmine Henriette geb. Luedecken. Ihr Vater ist herzoglicher Mundschenk und Opfermann in der St. Ulrici-Brüdernkirche. Wilhelmine verlebt im Elternhause "unter mancherlei Entbehrungen" eine "stille und einfache Jugendzeit". Mit 19 Jahren - für die damalige Zeit sehr jung - verlässt sie das Elternhaus und gründet eine eigene Familie.

1807 am 6. August heiratet sie in Braunschweig den gelernten Setzer und studierten Chemiker Johann Carl Gottfried Reichard, geb. am 26.03.1786, ebenfalls aus Braunschweig stammend. Noch im selben Jahre siedelt das Ehepaar nach Berlin über. Am 16.10. wird das erste Kind, die Tochter Siegmundine Caroline Friederike Christiane Elisabeth, genannt Lina, geboren.

1808/09: Die finanzielle Situation der jungen Familie ist schlecht, und Gottfried muss den Unterhalt mit den verschiedensten Beschäftigungen verdienen, insbesondere erteilt er Privatstunden und hält physikalische Experimental-Vorträge.

1810 wird das zweite Kind, der Sohn Carl August Eusebius, am 3. Februar in Berlin geboren. Gottfried erfüllt sich seinen größten Wunsch: Er hat einen Gasballon konstruiert und gebaut und startet als zweiter Deutscher am 27. Mai in Berlin zu seiner ersten Ballonfahrt. Weitere folgen.

2. Das erste deutsche "luftschiffende Frauenzimmer" (1811 bis 1820)

1811 beginnt auch für Wilhelmine der Traum des Ballonfahrens wahr zu werden. In dem folgenden Jahrzehnt wird sie 17 "Luftreisen" mit dem Gasballon unternehmen. Am 16. April steigt sie in Berlin als erste deutsche Frau mit einem Freiballon auf. Eine weitere Fahrt in Berlin folgt am 2. Mai. Inzwischen ist die Familie Reichard nach Dresden übergesiedelt. Hier startet Wilhelmine zur ihrer dritten Ballonfahrt am 30. September. Während die beiden ersten Fahrten glücklich verlaufen, stürzt Wilhelmine bei ihrer dritten Fahrt ab. Sie ist unter schlechtesten Witterungsbedingungen gestartet, erreicht zwar eine Rekordhöhe von ca. 7800 m, aber der Ballon zerreißt. Ihre Verletzungen sind jedoch nicht lebensgefährlich. Über alle drei Fahrten veröffentlicht Wilhelmine detaillierte Berichte, zum einen in den Berliner Nachrichten und zum anderen in zwei broschürten Publikationen ihres Ehemannes.
Zunächst aber unterbricht Wilhelmine für fünf Jahre ihre Ballonfahrten. Die politischen Zustände in Sachsen, der Napoleonische Krieg und seine Auswirkungen erzwingen diese Pause ebenso wie die familiäre Situation der Reichards.

1812 wird das dritte Kind, die Tochter Minna Angelika, am 10. März in Dresden geboren. Gottfried Reichard hält in Dresden Vorlesungen über "allgemeine Experimentalchemie", und er erhält eine Anstellung in den Klette'schen Vitriolwerken in Potschappel, einem Dorf bei Dresden.

1813 wütet der Napoleonische Krieg in Dresden und Umgebung, und das Vitriolwerk in Potschapel wird eingeäschert. Die finanzielle Not der inzwischen fünfköpfigen Familie ist sehr groß. Da findet Gottfried Reichard aufgrund seiner Kenntnis der französischen Sprache eine Stelle in Dresden als "commissar bei den casernen und dem lazarethe", die es ihm sogar ermöglicht, einige Ersparnisse zurückzulegen.

1814 siedelt sich die Familie Reichard in Döhlen, einem kleinen Ort im Plauenschen Grunde vor den Toren Dresdens, an. Es reift der Plan zur Gründung einer eigenen chemischen Fabrik. Gottfried beantragt bei der Königlich Sächsischen Hohen Landes-Regierung am 8. Juni dafür die Konzession.

1815 erhalten die Reichards am 10. Mai die gewünschte Konzession zur Errichtung einer Fabrik zur Herstellung von "technisch- und pharmaceytisch-chemischen Producten". Die Familie erwirbt einige Grundstücke dazu vomKammergute Döhlen.

1816 wird das vierte Kind, die Tochter Wilhelmine Henriette Hedwig, am 4. Februar in Potschappel geboren. Hedwig stirbt jedoch bereits am 5. August, nur 26 Wochen alt.
Da die finanziellen Mittel des Ehepaares Reichard für den Fabrikbau nicht ausreichen, beginnen beide wieder mit dem Ballonfahren, es ganz bewusst professionell und kommerziell als Einnahmequelle nutzend. Folgende Fahrten absolviert Wilhelmine: Die vierte Fahrt am 22. Juli in Berlin. Es ist eine der ersten Zielfahrten mit dem Freiballon. Sie landet nahe der Stelle, wo 10 Tage zuvor ihr Ehemann niedergegangen ist. Außerdem stellt sie mit ca. 210 Minuten ihren persönlichen Zeitrekord auf; es ist ihre längste Ballonfahrt überhaupt. Die fünfte Fahrt: 29. August in Hamburg. Mit ca. 225 km wieder ein Rekord für Wilhelmine, ihre weiteste zurückgelegte Strecke. Am 16. September steigt Wilhelmine in Anwesenheit von Fürst Blücher in Hamburg auf, jedoch nur für kurze Zeit und "gefesselt", um danach ihrem Mann den Platz in der Gondel einzuräumen. Die sechste Fahrt: 27. Oktober in Berlin. Wieder eine Besonderheit. Graf Roß, ein holländischer Adliger, begleitet sie - gegen Bezahlung.

1817 wird das fünfte Kind, der Sohn Gottfried, am 15. Oktober in Döhlen geboren. Wilhelmine muss deshalb mit ihren Ballonaufstiegen aussetzen. Gottfried steigt in diesem Jahre jedoch fünfmal auf.

1818 setzt Wilhelmine ihre Ballonfahrten zum Gelderwerb für den geplanten Fabrikbau mit Erfolg fort: Siebente Fahrt: 9. August in der Heimatstadt Braunschweig. Achte Fahrt: 11. Oktober in Aachen. Neunte Fahrt: 22. November in Brüssel. Auch Gottfried steigt einmal auf, nahe des Heimatortes: am 31. Mai in Dresden.

1819 finden weitere Ballonfahrten Wilhelmines statt: Zehnte Fahrt: 3. Juni in Hamburg. Elfte Fahrt: 1. Juli in Lübeck. Zwölfte Fahrt: 8. August in Doberan. Dreizehnte Fahrt: 17. September in Bremen. Gottfried begleitet sie stets, steigt aber selbst in diesem Jahr nicht auf.

1820 feiert Wilhelmine nochmals große Triumphe als "Luftschifferin". Ihrer vierzehnten Fahrt am 30. Mai in Prag wohnt der österreichische Kaiser bei. Er lädt sie zu zwei weiteren Aufstiegen nach Wien ein: Fünfzehnte Fahrt: 16. Juli in Wien. Sechzehnte Fahrt: 10. August in Wien. Diese Ballonfahrt wird von zwei Punkten der Erde aus astronomisch beobachtet, und zwar von der k. k. Universitäts-Sternwarte und vom Leopoldsberge aus. Die Flugbahn des Ballons wird im Drei-Minuten-Takt tabellarisch und graphisch aufgezeichnet. Das gab es bis dahin noch nie! Der finanzielle Ertrag ist überaus lohnend. Wilhelmine beendet ihre Ballonfahrt-Karriere triumphal am 1. Oktober in München zum Oktoberfest. Das Ehepaar Reichard kehrt in die Heimat zurück, und Wilhelmine widmet sich fortan ganz dem familiären Aufgaben.

3. Fabrikbesitzergattin und "Frau Professor" (1821 bis 1844)

1821 wird das sechste Kind, die Tochter Betty, am 18. April in Döhlen geboren.
Gottfried gründet seine chemische Fabrik in Döhlen, wozu Wilhelmine einen wesentlichen finanziellen Beitrag durch ihre Ballonfahrten geleistet hat. Diese Fabrik ist die erste und für Jahrzehnte die einzige ihrer Art in Sachsen. Es ist ein Spitzenunternehmen der damaligen Zeit, das insbesondere der Herstellung von Schwefelsäure dient.

1822 wird das siebente Kind, die Tochter Hermine, am 8. September in Döhlen geboren.

1823 bis 1833: Das folgende Jahrzehnt der inzwischen achtköpfigen Familie Reichard ist geprägt von der tatkräftigen Erweiterung der Fabrik, von vielfältigen Aktivitäten Gottfrieds in gewerblichen und industriellen Vereinen und seiner Mitwirkung sowie Leitung in anderen Unternehmen seines Heimatgebietes. Als "Professor" genießt er die große Wertschätzung seiner Freunde. Wilhelmine, die Frau "Professor", bleibt ihrem Mann auch in dieser Lebensphase eine "allezeit bereite und sorgsame Rathgeberin".

1834 wird das achte und letzte Kind, die Tochter Louise, am 24. Januar in Dresden geboren. Im selben Jahr baut Gottfried nochmals einen Ballon, so groß, dass dessen Gondel für 3 Personen Platz bietet. Er steigt damit zusammen mit seiner Tochter Minna Angelika in Dresden und Leipzig auf.

1835 reist das Ehepaar Reichard zum Oktober-Fest mit dem großen Ballon nach München. Gottfried beendet mit seiner sechzehnten Fahrt am 9. Oktober am selben Ort wie Wilhelmine vor 15 Jahren die aktive Ballonfahrerzeit. Ein repräsentatives Doppelbildnis des Ehepaares aus dieser Zeit betont in der Öffentlichkeit noch einmal den bedeutsamen Anteil Wilhelmines - als erster deutscher Frau - an der Entwicklung der Ballonfahrt.

Ein weiteres Jahrzehnt Gemeinsamkeit steht den Eheleuten noch zur Verfügung. Gottfried verstärkt seine Wirksamkeit für die Fabrik und in der Öffentlichkeit, hält Vorträge und publiziert seine Gedanken über die industrielle Entwicklung seines Heimatgebietes, des Plauenschen Grundes, und über Aeronautik. Wilhelmine lebt an seiner Seite, nimmt Anteil an seiner Tätigkeit, "kein Geschäft, keine Erfahrung, die er nicht erst mit ihr besprochen" hätte.

4. Abschied (1844 bis 1848)

1844 stirbt Gottfried Reichard nach kurzem Krankenlager unerwartet am 27. März, einen Tag nach seinem 58. Geburtstag, in seinem Hause in Döhlen an Lungenschlag. Für Wilhelmine ist der Tod ihres Mannes, nach fast 37-jähriger Ehe, sehr schmerzvoll, sie ist "trost- und rathlos". Aber auch finanzielle Sorgen belasten sie. Der plötzliche Tod verhinderte möglicherweise eine entsprechende vorsorgliche Ordnung der Geschäfte. Die Fabrik wird von den Söhnen Dr. phil. August und Gottfried weitergeführt.


Wilhelmine, "ergeben in die schwere Schickung, verlebte ... ihre Tage in wehmüthiger Erinnerung an das vergangene Glück, eingedenk nur der treuen Erfüllung ihrer Mutter- und Menschenpflichten".

Am 23. Februar 1848 früh 7 1/2 Uhr stirbt Wilhelmine Reichard in Dresden, wo sie zur Betreuung einer erkrankten Enkelin weilte, an den Folgen eines Schlaganfalles. Sie wird, ebenso wie ihr Mann vor vier Jahren, auf dem Friedhof in Döhlen begraben.

Quelle: Monjau, Heide: Wilhelmine Reichard - erste Ballonfahrerin 1788 bis 1848, "Gleich einem Sonnenstäubchen im Weltall ...", Freital 1998, S. 112 ff.